Architektur, Kunst, und Kul­tur

Mit seiner markanten Architektur und dem bahnbrechenden Einsatz von Technologie verkörpert der Weisse Turm das transformative Potenzial von computergestütztem Design und digitaler Fertigung in Architektur und Bauwesen. Der Einsatz des 3D-Drucks ermöglicht eine kühne, nicht standardisierte Architektursprache — mit aussergewöhnlichen Formen und Gestaltungsmöglichkeiten, die gleichzeitig wirtschaftliche und ökologische Vorteile bieten. Der Turm verkörpert einen neuen Ansatz architektonischer Formgebung, der sich über mehrere Maßstäbe erstreckt: von der grossen organischen Form des Bauwerks selbst bis hin zu den maßgeschneiderten verzweigten Säulen und ihren filigran ornamentierten Mikrostrukturen.

Anstatt konventionelle Bauweisen zu kopieren, entwickelt der Weisse Turm eine neuartige Designsprache, die die besonderen Eigenschaften von 3D-gedrucktem Beton in den Vordergrund stellt. Bei Einbruch der Dunkelheit verwandelt sich der Turm – seine charakteristischen Öffnungen leuchten wie ein Laterne und machen ihn zu einem weithin sichtbaren Zeichen entlang der historischen Julierpass Route. Im Winter schützt eine transparente, abnehmbare Membran das Bauwerk vor Wind und Schnee.
 

Säulen als zentrales Gestaltungselement

Konzipiert ist der Weisse Turm als vertikale Raumfolge aus fünf Etagen, die Besuchern ein einzigartiges Raumerlebnis bietet. Beim Aufstieg über die Wendeltreppe durchschreitet man stimmungsvolle Räume – von dunklen, intim gehaltenen Kammern im unteren Bereich bis hin zu lichtdurchfluteten, luftigen Bereichen in den oberen Geschossen. Oben angekommen, gelangen die Besucher in den Kuppelsaal, einen intimen Aufführungsraum mit 36 Sitzplätzen und einer zentralen Bühne. Dieser Raum wird von einer filigranen Kuppel gekrönt, die von acht zierlichen, verzweigten Säulen getragen wird. Der Raum eignet sich für vielfältige Kleinkunst-Veranstaltungen: von Konzerten mit lokaler Liedkunst über elektronische Kompositionen bis hin zu Lesungen und zeitgenössischen Choreografien. Die Besucher geniessen einen Panoramablick über die majestätische Alpenlandschaft des Val Surses.

Das zentrale Gestaltungselement des Turms bilden 32 einzigartige, 3D-gedruckte Säulen, die sowohl die verschiedenen Ebenen des Gebäudes tragen als auch seine Fassade definieren. Ihre Formensprache reicht von breiten, massiven Säulen mit 3,4 Metern Höhe in den unteren Geschossen bis zu schlanken, verschlungenen Säulen von bis zu 6 Metern Höhe im obersten Stockwerk. Trotz ihrer formalen Unterschiede vereint sie die einheitliche Materialität, die der gesamten Struktur visuelle und konzeptionelle Kohärenz verleiht. Der helle weisse Beton und die wellenförmigen Konturen der Säulen verstärken das architektonische Spiel von Licht und Schatten.
 

Mehrere Ornamentskalen

Durch computergestütztes Design und digitale Fertigung weist jede Säule drei unterschiedliche geometrische Gliederungsebenen auf. Die erste Ebene verleiht den Säulen eine organische, knochenartige Form, die seitliche Kräfte ohne zusätzliche Verstärkungen ableitet. Zur Materialoptimierung wurde eine zweite Gliederungsebene integriert: breite, spiralförmige Wellen, die sich über die Säulenoberflächen winden und zugleich die Schlankheit der Struktur betonen. Die dritte Ebene bildet eine feine, säulenspezifische Ornamentik, die durch die gezielte Steuerung des Extrusionspfads beim 3D-Druck entsteht. Diese materialbasierte Ornamentik spiegelt unmittelbar den Herstellungsprozess wider und steigert die visuelle Komplexität der Struktur. Diese neuartige digitale Handwerkskunst erinnert an die Kunstfertigkeit barocker Baumeister in Graubünden und schlägt so eine Brücke zwischen historischem Erbe und zukunftsweisenden Technologien.

Der 3D-gedruckte extrudierte Beton des Weissen Turms ermöglicht eine einzigartige "materialgetriebene" Ornamentik, die sich aus den inhärenten Eigenschaften des Betons und dem robotergesteuerten Druckprozesses ergibt. Durch subtile Variationen beim Drucken, wie die Anpassung von Geschwindigkeit und Winkel der Extrusion, erzeugt der Roboter nahtlos organische, unregelmäßige Formen an den Säulen.

Alchemistischer Ansatz

Die genaue Ausprägung der Ornamente ist allein durch digitale Modellierung schwer vorhersehbar – ihre endgültige Form entsteht aus dem Zusammenspiel von Materialverhalten, Roboterbewegung und Umgebungsfaktoren. Um mit dieser Unvorhersehbarkeit umzugehen, entwickelten die Designer ein "Kochbuch" mit Ornament-Rezepten, das Parameterkombinationen bestimmten Texturen und Mustern zuordnet. Jede Eingabekombination erzeugt einen distinkten ästhetischen Effekt, was einen iterativen, fast alchemistischen Ansatz erfordert, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Neue digitale Handwerkskunst

Die Rezepte des Kochbuchs ermöglichen Massenindividualisierung und gestalten einzigartige Säulendesigns ebenso mühelos wie Standardformen. Die haptischen Oberflächen des Betons laden Besucher ein, seine dynamische Form zu ertasten und zu erkunden. Diese Verschmelzung von algorithmischer Präzision und materialer Anpassungsfähigkeit eröffnet neue Möglichkeiten architektonischen Ausdrucks und bereitet den Weg für eine neue neue architektonische Kunstfertigkeit.

Studien zu materialgetriebenen Ornamenten
 
Weisser Turm / Tor Alva Konzeptvideo mit Säulenaufbau, Januar 2024
 

Schauplatz: Das Bergdorf Mul­egns

Eingebettet in den Schweizer Alpen entlang des Julierpasses hat das Dorf Mulegns seit langem eine historische Bedeutung. Einst eine Postkutschenstation auf der Route, die die Zentralschweiz mit der Engadin-Region verband, verband es Zürich mit St. Moritz. Ursprünglich ein bescheidenes Dorf, wanderten viele Bewohner von Mulegns in größere Städte aus und arbeiteten als Stuckateure und Konditoren. Erfolgreiche Rückkehrer bauten prächtige Villen, und als der Tourismus aufblühte, erlebte das Dorf eine Zeit des Wohlstands.

Heute steht Mulegns vor erheblichen strukturellen Herausforderungen. Viele Gebäude stehen leer, und die Einwohnerzahl ist auf 12 Personen gesunken. Die Origen-Stiftung setzt sich dafür ein, das kulturelle Erbe zu bewahren und das Dorf wiederzubeleben. Die Weisse Villa, heute unter Bundesschutz, wurde kürzlich versetzt, und das historische Posthotel Löwe wurde restauriert und empfängt wieder Gäste.

Der Weisse Turm markiert ein neues Kapitel in der Renaissance des Dorfes. Er wurde direkt auf dem historischen Warenlager errichtet und gibt diesem ehemals verlassenen Gebäude, das nun als Eingang zum Turm dient, neues Leben. Die Fundamente des Turms integrieren die bestehende historische Gewölbedeckenkonstruktion. Der Übergang zwischen Alt und Neu wird durch einen vor Ort gefertigten skulpturalen Betonsockel betont. Der Weisse Turm, der als Wahrzeichen an der alten Passstraße steht, wird die Geschichte des Dorfes weiterschreiben und neu interpretieren – ein neues Kapitel in seiner bewegten Vergangenheit.

Point cloud: IGP Group, ETHZ
Weisser Turm im Bergdorf Mulegns
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